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AutorenbildMeine Klasse

Abgeräumt


„Was hast du denn da gemacht?“, frage ich Pelin und zeige auf eine frische Brandnarbe auf ihrem Dekolleté. Ein circa zehn Zentimeter langer Strich, der sich wie ein gerader Blitz über ihr Schlüsselbein erstreckt. „Backblech im Netto. Hammer oder?!“ Sie nickt mir mit ihrem Kinn voran zu und zieht die Augenbraue hoch.


Das war vor dem letzten Lockdown im Herbst. Die Neuntklässler:innen des Hauptschulzweigs kamen gerade aus dem Praktikum und ich glaube, es gab einige, die in diesem Augenblick wirklich eine Zukunft für sich gesehen haben. Pelin wusste, dass sie auf keinen Fall im Netto, sondern, wie ihre Freundin Tuana, lieber in einer Zahnarztpraxis arbeiten will.

Tuana erzählte, wie nett alle waren, dass arbeiten anstrengend sei, aber „wallah, einfach geiler als Schule“ und dass die beim Zahnarzt gesagt hätten, sie und Pelin sollten sich bewerben. „Die wollen uns!“.


Mert erzählte davon, wie korrekt seine Kollegen in der Werkstatt gewesen seien. Niklas, dass die beim Friseur wo er war „immer Leute brauchen“.


Ich habe damals zugehört und festgestellt, dass ich die Schüler:innen selten so begeistert von etwas erzählen hören habe. Alle schienen plötzlich Pläne zu schmieden. Diesen Blick nach vorn, in die eigene Zukunft, habe ich da zum ersten Mal gesehen. In dieser ersten Schulstunde nach dem Praktikum waren fast alle davon überzeugt: Da draußen gibt es einen Platz für uns.


Vor zwei Wochen, nach einem zähen Gemisch aus Lockdown und Ferien kam ich also nach langer Zeit zurück in die Klasse und weil ich wusste, dass es jederzeit wieder vorbei mit dem Präsenzunterricht sein konnte, fragte ich direkt nach:

„Wie sieht`s eigentlich aus? Wisst ihr schon, wo es hingeht nach dem Schuljahr?“ Ich fragte das, weil klar ist, dass die meisten Jugendlichen, die in der neunten Klasse des Hauptschulzweigs sind, die Schule bald verlassen werden. Einige wenige von ihnen gehen „hoch“ in den Realschulzweig, wenn ihre Noten stimmen. Für die anderen ist hier erstmal Schluss mit der Schule, wie sie sie kennen. In diesem Schuljahr entscheidet sich, wer Bewerbungen zustande bringt, wer damit eine Ausbildungsstelle findet. Alle diejenigen, die keine Stelle finden, aber noch schulpflichtig sind, gehen ins BVJ. Das Berufsvorbereitungsjahr auf einer Berufsschule. Ich habe schon viele Bezeichnungen für BVJ-Klassen gehört. Keine von ihnen war es wert, hier zitiert zu werden.


Ich stellte also meine Frage und bekam die Antwort, die ich am wenigsten erwartet und am meisten befürchtet hatte: Schulterzucken.

Ein leeres Stimmengemisch aus „Keine Ahnung“, „BVJ“, „Arbeitsamt“ und Lachen füllte den Raum.

Das wollte ich nicht so ganz glauben, also fing ich an, sie einzeln anzusprechen.

„Niklas, was ist denn mit dir, wo geht’s hin?“

„Keine Ahnung.“ Von Friseur keine Rede.

„Pelin?“

„Ich weiß nicht, BVJ denk ich.“

„Tuana?“

„Ey keine Ahnung, ich weiß nicht.“

Niemand, wirklich niemand aus der Klasse, hatte einen Plan.


Erst nachmittags merkte ich, wie sehr mich diese Stunde beschäftigt hat. Wo sind denn die Begeisterung, der Mut und die konkreten Pläne geblieben? Diese Überzeugung, die ich damals in ihren Gesichtern gesehen habe?

Wir haben viele gute Angebote an unserer Schule für die Neuntklässler:innen.

Tuana zum Beispiel: Sie hat Bewerbungen geschrieben, sie hat Beratungen in Anspruch genommen. Sie wurde dafür vom Unterricht freigestellt. Sie hat mir ihren Lebenslauf gezeigt. Und am Ende hat sie doch nichts gemacht?!

Ich weiß, die folgenden Zeilen sind irrational und sicher nicht für jeden nachzuvollziehen. Aber:

Ich habe mich schuldig gefühlt. Ich habe mir überlegt, wie es gewesen wäre, wenn ich Tuana zum Beispiel direkt nach dem Praktikum und bis jetzt ganz eng begleitet hätte. Also so richtig. Wenn ich jeden einzelnen Schritt mit ihr gegangen wäre. Ich wusste doch, wie gut es ihr gefallen hatte. Wieso habe ich nicht dafür gesorgt, dass sie die Bewerbung, die sie bei der Berufsberatung geschrieben hat, auch wirklich abschickt? An welcher Stelle hat sie aufgehört, an diesen Platz, der ihr zusteht, zu glauben? Was hätte sie gebraucht, um durchzuziehen?


Wer hier auf eine Antwort hofft, den muss ich enttäuschen. Ich habe keine.


Ich habe nur einen kleinen Trost am Ende dieser Geschichte. Denn eine Woche später war Mert wieder in der Schule. Der, der sein Praktikum in der Autowerkstatt gemacht hat. Und ich habe ihn gefragt, wo es hingeht. Und er hat mir geantwortet:

„Benz. Ich hab `ne Ausbildung.“

„Was? Wirklich? Wie toll ist das denn?“, jubelte ich ihn an.

Er hat mit den Schultern gezuckt: „War klar, ich hab abgeräumt.“

Mert hat abgeräumt. Einer. Wenigstens einer.




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